29.08.2024 07:16
Kampf um Gleichstellung als Lebenswerk
Leitung der Infostelle Frau und Arbeit neu besetzt
Antonella Bizzini baute die Infostelle für Frau und Arbeit in Weinfelden auf und schuf ein wichtiges Puzzleteil in Sachen Gleichstellung. Nun schliesst sie ihre Lebenswerk ab und übergibt es an Andrea Blum - die Beweggründe könnten schönere sein.
Antonella Bizzini, Sie verlassen «Frau und Arbeit» - darf man nach dem Grund fragen?
Viele gehen davon aus, dass ich mich pensionieren lasse. Das ist nicht der Fall. Ich habe in den letzten zehn Jahren aufgrund steigender Beratungszahlen sehr viel gearbeitet.. zu viel. Ich war seit längerer Zeit körperlich erschöpft, doch erst als die Finanzierung zusätzlicher Stellenprozente gesichert war und wir die juristische Beratung aufstocken konnten, «erlaubte» ich mir meine Erschöpfung. Ich war ausgebrannt und mein Körper schaffte es nicht mehr, sich zu erholen. Ich musste mich krank schreiben und behandeln lassen. Zunächst ging ich davon aus, dass ich nach einiger Zeit wieder meine Arbeit würde tun können. Doch schon nach ein paar Monaten nach meinem Wiedereinstieg merkte ich, dass mein Körper noch reagiert. Ich musste Abstand nehmen von der intensiven Arbeit der Beratung von Klientinnen und Klienten. Leider. Denn die Arbeit gefällt mir nach wie vor sehr!
Was war damals (Wann war dies?) ihre Motivation, die Stelle anzutreten?
Im Spätsommer 98 sah ich ein Inserat von der Frauenzentrale Thurgau. Sie suchten eine Juristin ca. 20 – 30 % für den Aufbau einer Beratungsstelle nach Gleichstellungsgesetz. Mich haben sowohl die Stellenprozente als auch die Aufgabe angesprochen und das Thema. Eine Stelle aufzubauen ist eine spannende Herausforderung, erst recht zum Thema Gleichstellung! Ich hatte mich schon während meines Studiums mit dem Thema Gleichstellung auseinandergesetzt und Ungerechtigkeit ist etwas, was mich seit klein auf bewegt. Der Vorstand entschied, mich anzustellen und ich nahm meine Arbeit am 01.10.1998 auf.
Was wird ihnen in Erinnerung bleiben, welche Moment sind prägend?
Was soll ich sagen, es ist so vieles. Ich hatte das Privileg, meine Arbeit selber zu prägen und zu gestalten und das, was mir wichtig war, einzubringen. So war es mir sehr wichtig, die Klient:innen nicht nur in ihrem juristischen Problem wahrzunehmen. Ich konnte die Beratungen ganzheitlich angehen. D.h., auch die Umstände der Person wahrnehmen und ansprechen, die nicht direkt mit der juristischen Anfrage zu tun hatten, doch sich darauf auswirkten. Wenn der Zeitpunkt richtig war, löste sich etwas. Kennen Sie die Momente, in denen alles plötzlich «stimmt», sich anfühlt, als wenn alle Puzzleteile für einen Moment am richtigen Ort sind? Solche «magischen» oder fast mystischen Momente waren ein grosses Geschenk, nicht nur für die ratsuchende Person, sondern auch für mich. Und dann werden mir die vielen geschäftlichen Beziehungen in Erinnerung bleiben; all die Menschen, die sich auch für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft und für die Anliegen von Menschen einsetzten, und die einen unkomplizierten und offenen Austausch ebenso schätzten wie ich.
Was konnten Sie in der Zeit bewirken? Welche sind Ihre persönlichen Meilensteine?
Als ich die Stelle antrat, hätte wohl niemand daran gedacht, dass sich aus dieser kleinprozentigen Stelle eine über den Kanton hinaus anerkannte und geschätzte Fachstelle entwickeln würde. Schon nach ein paar Jahren wurde die Stelle inhaltlich erweitert; es kam die Berufs- und Laufbahnberatung zur juristischen Beratung hinzu. Diesem Schritt ist rückblickend betrachtet der Erfolg zu verdanken: Die Infostelle Frau+Arbeit wurde zu einer Kompetenzstelle für alle Fragen zum Thema Erwerbsarbeit. Diesen Schritt hatte das Eidg. Büro für Gleichstellung von Frau und Mann angeregt und ich hatte die Anregung übernommen und umgesetzt. Weitere Meilensteine sind das Erreichen der Leistungsvereinbarungen zunächst mit dem Kanton St. Gallen und Kanton Appenzell Ausserrhoden, was die Stelle zu einer regionalen Fachstelle machte. Ein grosser Erfolg war, als der Kanton Thurgau sich von der Wichtigkeit unserer Arbeit überzeugen liess und die Stelle ebenfalls finanziell unterstützte. Es gelang mir aufzuzeigen, wie wichtig es für unsere Gesellschaft ist, dass alle Menschen Zugang zu Informationen und Recht haben. Ich konnte die Stelle im Kanton und darüber hinaus gut vernetzen. Die Infostelle ist Mitglied der Konferenz Chancengleichheit Ost und Fürstentum Liechtenstein: eine Konferenz aller staatlichen und NGO- und Fachstellen in den Ostschweizer Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein mit dem Thema Gleichstellung. Sehr wichtig für mich und meinem Team war die Resonanz auf die Gründung des Clubs der 500, als die Finanzhilfen des Bundes und von St. Gallen wegfielen: Wir haben zwar (noch) nicht 500 Mitglieder, aber wir haben sehr viele treue Mitglieder und wir konnten Gemeinden gewinnen, einen Beitrag zu zahlen. Sehr gefreut und berührt haben mich auch die vielen Zuwendungen von Frauenorganisationen. Immer wieder war die Konkurrenz unter Frauen das grössere Thema als die Solidarität. Hier zeigte sich, dass die Solidarität spielte, und wie! Das hat mich persönlich sehr sehr gefreut!
Wo sehen Sie die grösste Veränderung der Gesellschaft seit ihrem Arbeitsantritt?
Das Thema Gleichstellung war zu diesem Zeitpunkt im Kanton Thurgau noch nicht wirklich als gesellschaftliches Anliegen angekommen. Unsere Arbeit half, die Themen immer wieder aufzubringen und präsent zu halten. Gleichstellung kann nicht befohlen werden. Auch wenn die Rechte der Frauen denjenigen der Männer angepasst wurden, sind persönliche Bilder, persönliche Wertvorstellungen, Meinungen richtungsweisend für das Handeln einer Gesellschaft und jeder einzelnen Person. Das lässt sich nicht von heute auf morgen ändern. Sensibilisierung der Öffentlichkeit und Sensibilisierung von einzelnen ist fast zu vergleichen mit Sisyphusarbeit. Aber eben nicht ganz: Die Arbeit ist nicht vergeblich, sie ist auf Langfristigkeit angelegt und die, die säen, sind nicht immer die, die ernten. Es geht um gesellschaftliche Veränderungen, die ohne den Willen der Einzelnen nicht machbar sind. Unsere Gesellschaft steht im Thema Gleichstellung heute an einem anderen Punkt als 1998. Und es ist schön zu sehen, dass Entwicklung möglich ist.
Eine weitere grosse Veränderung ist die Realität im Berufsleben: Arbeitnehmende sind ein Kostenfaktor. Lebensumstände von Arbeitnehmenden werden tendenziell allenfalls als Störfaktor zur Kenntnis genommen, beispielsweise wenn Arbeitnehmerinnen schwanger werden. Oder wenn die Kinder von Arbeitnehmenden krank werden, etc.. Die Loyalität zur Arbeitgeberin und umgekehrt zu den Mitarbeitenden hat im Vergleich zu vor 25 Jahren abgenommen. Das Arbeitsrecht hat sich als Spezialgebiet des Rechts etabliert. Entsprechend hat sich auch die Rechtsprechung entwickelt und es gibt viele rechtliche «Stolperfallen». Das erhöht den Bedarf an Beratungen, denn eine Privatperson weiss kaum mehr, worauf sie zu achten hat oder wie sie sich korrekt verhalten soll in einem Konfliktfall. Das ist bedenklich, denn es geht immerhin um die Existenzsicherung.
Fällt es Ihnen schwer, ihr «Baby» in neue Hände zu legen?
Ich hatte fast ein Jahr Zeit, mich darauf einzustellen, dass ich die Arbeit nicht mehr werde ausüben können. Dennoch fällt mir der Abschied schwer: Denn, wie ich bereits gesagt habe, ich liebe meine Arbeit und habe sie sehr sehr gern gemacht. Es ist somit meine Arbeit, die ich schweren Herzens loslassen muss. Die Infostelle Frau+Arbeit ist mein Ziehkind, nicht mein Baby. Ich erachte es als grosses Privileg, dass ich die Stelle in grosser Freiheit aufbauen durfte und so gestalten durfte, wie ich es für richtig erachtete. Und ich erachte es als grosses Privileg, die Stelle in neue Hände legen zu dürfen. Das bedeutet, dass mein Ziehkind lebt. Es liegt nun an Jüngere, die weiteren Entwicklungsschritte zu begleiten und zu leiten. Meine Nachfolgerin ist sehr engagiert und voller Ideen und wird die Stelle anders als ich führen. Und das ist gut!
Was werden Sie wohl vermissen?
Die Gespräche mit meinem Team. Und die Beratungen. Und die Vernetzung … ich glaube, zu Beginn wohl alles. Aber ich werde auch erleichtert sein.
Wie läuft die Einarbeitung ab?
Wir haben nur eine sehr kurze Zeit zur Verfügung, drei Wochen. Aber sie läuft sehr gut. Ich wünsche Alexandra von ganzem Herzen viel Erfolg, Mut, Humor, Geduld und Herz.
Interview Desirée Müller