Der Waggon soll zurück in den Thurgau kommen.
24.10.2024 10:10
Mobiles Kulturerbe soll rollen
Verein setzt sich für Restauration eines 113 Jahre alten Waggons ein
Der Verein Hirstorische Mittelthurgau-Bahn beantragte beim Lotteriefonds 180'000 Franken für die Restauration des letztes Bahnwaggons seiner Art der Mittelthurgau Bahn - und bekam den ganzen Betrag zugesprochen. Somit ist die Hälfte der Kosten gesichert. Nun sind sie auf der Suche nach Spendern und Sponsorinnen, welche das Vorhaben unterstützen.
Weinfelden
Michael Mente und Daniel Rutschmal brennen für Welt der Eisenbahn –beide von einer anderen Perspektive aus. Als Lokführer ist Daniel an der Technik interessiert und kennt scheinbar jedes «Schrüübli» in den Schienenfahrzeugen. Historiker Michael hingegen ist fasziniert von der Geschichte der Bahn. Im Speziellen an dieser der damaligen Mittel-Thurgau Bahn (MThB).
Wir sitzen in einem Kaffee in Weinfelden und sprechen über das neuste Projekt des Vereins Historische MThB. Beide sind im Vorstand für den Verein tätig und mit Jürg Schumacher in einer Projektgruppe zur Restaurierung des letzten erhaltenen MThB-Personenwagens aus der Gründungszeit (1911) engagiert. In der Mappe vor Michael Mente liegt das Manuskript seines neuesten Buches über das geschichtsträchtige Unternehmen MThB – ein unfassbar aufwändiges Projekt, das sich Mente hier «aufgehalst» hat. Doch dank seinen Recherchen ist er ganz und gar in der Materie drin und weiss, welche Bedeutung der von aussen unscheinbare, dreiachsige Personenwagen «C2 102» hat. Denn dieser soll wieder in den Thurgau zurückkehren. Er ist aktuell in Winterthur. Gekauft hat ihn der Verein schon im Februar. «Man musste schnell entscheiden – dass er noch existiert, grenzt an ein Wunder», so Mente. Der Wagen soll nun restauriert werden, ein Vorhaben, welches gut 350'000 Franken kosten wird. Den «Mammut-Betrag» aus der Vereinskasse zu zahlen ist natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. So reichten sie einen Antrag beim Thurgauer Lotteriefonds ein und baten um 180'000 Franken. Zu ihrer Überraschung wurde ihnen der ganze Betrag zugesprochen. Der kulturhistorische Wert des Wagens für unseren Kanton ist unschätzbar, dies erkannte auch der Regierungsrat, welcher sich für das Projekt aussprach. «Es zeichnet sich ein gewisses Umdenken bei den Verantwortlichen zur Erhaltung unseres Kulturerbes ab», schätzt Michael Mente. Die Denkmalpflege konzentrierte sich bis anhin auf feste Bauten und Anlagen. Das «mobile Erbe» bekam nicht immer die verdiente Aufmerksamkeit. Eisenbähnler wollen die Fahrzeuge im Einsatz sehen, was wiederum den musealen Interessen widerspricht: «Man darf es nicht bewegen, sonst nutzt es sich ab oder es geht kaputt.» So landeten schon so manche Zeitzeugen in einem Museum, statt zurück auf die Schiene. Die Denkmalpflege kann da mit ihrem Ansatz der Umnutzung und Weiternutzung auf sehr gute Weise vermitteln: Um das Objekt kann Geschichte erzählt, Respekt für das Geschaffene vermittelt werden und gleichzeitig verschafft es einer neuen Generation durch niederschwelligen Zugang in jeder Hinsicht neue Erlebnisse. Nach der Restaurierung soll der Wagen nämlich wieder für Nostalgie- und Ausflugsfahrten in Betrieb genommen werden.
Verein vollbrachte schon ein Wunder
«Der C2102 ist 113 Jahre alt und hat nach über 50 Jahren Einsatz auf der Strecke Konstanz-Kreuzlingen-Weinfelden-Wil sicherlich so manche Geschichte zu erzählen», sagt Mente. Dass der letzte originale Personenwagen aus der Gründungszeit der MThB überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Kein Wunder daher: Der Waggon ist schon seit Jahren ein Objekt der Begierde für den Verein. Nachdem er nach der Elektrifikation der MThB 1965 an die Sursee-Triengen-Bahn verkauft worden war, hatte er 1997 er dort seine letzte Dienstfahrt von der Historischen Seethalbahn übernommen. In der Absicht, diesen zu restaurieren. Doch schon bald wurde eine Blache über den demontierten C2 102 gelegt, der Verein hatte nicht die Kapazität für die höchst aufwändige Restaurierung. Der Thurgauer Verein mit Sitz in Weinfelden vollbrachte bereits einmal ein «Wunder» und ist sich sicher, auch ein weiteres Mal für «Furore» in der Bahnwelt zu sorgen: Die Kesselrevision der Dampflokomotive Ec 3/5 3, ihrerseits die letzte originale Thurgauerin (Baujahr 1912),im Jahr 2022 sprach sich in Bähnler-Kreisen herum. Eine Meisterleistung, welche der Verein vollbrachte, er schaffte es in einer beispiellosen Fundraising-Aktion, Menschen zu mobilisieren und so das benötigte Kapital vor allem über Spenden zu beschaffen. Wenn jemand in der Lage ist, den C2 102 authentisch in Stand zu setzen, dann sind es die Thurgauer, waren sich die Verantwortlichen der Sursee-Triengen-Bahn, welche den Wagen unterdessen wieder hüteten, einig und stimmten dem Verkauf zu. Daniel Rutschmann hatte bereits seit Jahren immer wieder einmal bei der ST angeklopft und das Interesse des Vereins bekundet. Umso grösser die Freude, dass es im Februar 2024 mit der Übernahme geklappt hat. «Der Wagen gehört in den Thurgau, in sein Zuhause», sagt Daniel Rutschmann, Leiter Historische Fahrzeuge des Vereins. "Wir haben damit, das ist etwas Einmaliges, einen originalen historischen Zug beisammen", ergänzt Michael Mente. "Er ergänzt den seit MThB-Zeiten bestehenden Mostindien-Express, erweitert das Sitzplatzangebot und kann so ganz neue Erlebnisse vermitteln. Erfahrbares Kulturgut." Aktuell steht er in Winterthur bei der dafür bestens qualifizierten Historic Rail Services, wo die Rundum-Erneuerung geleistet wird. Doch auch die Vereinsmitglieder und Interessierte können sich an dem Vorhaben beteiligen. So sind Arbeitstage vorgesehen, bei denen alle anpacken dürfen. Firmen werden für Materialspenden und andere Naturalleistungen angefragt, so könnten auch Lehrlinge an diesem einmaligen Stück zum Einsatz eingesetzt werden, es werden verschiedene Stiftungen, Fonds, aber auch Private angeschrieben.
Sympathie für die Bahn
Das alles soll helfen, um möglichst schnell die zweite Hälfte der Finanzierung zusammenzubekommen. Denn eine Sache ist Voraussetzung: Zuerst muss der Verein den Nachweis erbringen, dass die volle Finanzierung gesichert ist bzw. das Projekt realisierbar ist, bevor der Kanton das zugesprochene Geld ausbezahlt. Somit läuft die Spendenaktion und das Fundraising auf Hochtouren. Bei der Kesselrevision kamen innert weniger Wochen 110'000 Franken zusammen. Die Sympathie dem Verein und der Bahn gegenüber ist scheinbar gewaltig im Thurgau. Zum einen hat der Verein in den letzten 20 Jahren kontinuierlich gute Beziehungsarbeit geleistet und ein etabliertes Angebot geschaffen, zum anderen lebt noch immer etwas Erinnerung an die einstige "Thurgauer Staatsbahn". «Wir haben noch eine Generation von Leuten unter uns, die auch den Dampf der Loks gesehen hat, in der sprichwörtlichen Holzklasse mitgefahren ist und vielleicht sogar mit einem russigen Gesicht ausstieg, weil sie einen Platz hinter der Dampflok hatten», erzählt Mente. So sehen Mente und Rutschmann gute Chancen, das Projekt schlussendlich realisieren zu können. Doch es warte eine intensive Zeit auf die Vorstandsmitglieder, gilt es doch, für den C2 102 anhaltend die Werbetrommel zu rühren. Sie hatten dafür unter anderem eine schöne Idee: Auf der Webseite ist ein Katalog mit anstehenden Arbeiten aufgeschaltet. So kann man zum Beispiel einen Batzen für ein neues Bänkli spenden oder die Asbestsanierung unterstützen.
Er ist der letzte erhaltene Wagen aus der Gründungszeit der Mittel-Thurgau Bahn. «Kulturgut erster Güte», sagt Historiker Michael Mente. So wurden seit der Übernahme schon einige «Schätze» gefunden. An ihm liest man die Geschichte der Bahn, die bis zur Elektrifizierung mit bescheidensten Mitteln arbeiten und bis in die 1950er-Jahre ums nackte Überleben kämpfen musste. Eine Besonderheit war zum Beispiel, dass man im Zweiten Weltkrieg den Dampf-/Dieselbetrieb eingeführt hatte und diese Wagen als leichte Anhänger zur Angebotsverstärkung umgebaut hatte. Die mittlere der drei Achsen wurde entfernt und weil die deutschen Dieseltriebwagen keine Heizmöglichkeiten wie etwa eine Dampflok hatten, wurde unter das Fahrgestell eine Koks-Ofen-Heizung (von aussen befeuert!) montiert. Das ist noch heute vorhanden. Weitere Zeugnisse folgen. «Zum Beispiel sind unter einer Holzverkleidung Namen von Depotmitarbeitern aus verschiedenen Zeiten aufgetaucht.» Mente machte sich an die Arbeit, schaute sich tagelang Arbeitspläne der Bahnmitarbeitenden aus der Zeit durch und fand tatsächlich die Namen, welche die Revisionen und sich so verewigten. So konnte er ein Bild der einstigen «Bahncrew» erschaffen und zumindest im Kopf den emsigen Betrieb im Wagen wieder zum Leben erwecken. «Alles ist noch sehr viel an Originalsubstanz vorhanden.» Nun gelte es, das gute Stück nach denkmalpflegerischen Grundsätzen sorgfältig aufzuarbeiten. Verwenden, was noch geht, ergänzen und nachbauen, möglichst auf den aussagekräftigsten historischen Zustand. Das Holz sei in einem desolaten Zustand, gewiss nach all der Zeit und so war es auch damals.. Sobald mit nach der Asbestsanierung mit den grösseren Arbeiten begonnen werden kann, wird es drei bis vier Jahre dauern, bis der Wagen in neuem, alten Glanz erstrahlt.
Von Desirée Müller