Rehan Neziri hat an der Entwicklung des Lehrplans massgeblich mitgewirkt und die Lernmaterialen erarbeitet.
Bild: Desirée Müller
21.08.2025 10:00
Islamunterricht nach offiziellem Lehrplan
As-salamu alaikum im Klassenzimmer: Thurgau führt ersten Lehrplan für Islamunterricht der Schweiz ein.
«As-salamu alaikum» – «Friede sei mit dir». Mit dieser Begrüssung startet in Thurgauer Klassenzimmern ein neues Kapitel der Schweizer Bildungsgeschichte: Zum ersten Mal lernen muslimische Kinder nach einem offiziellen Lehrplan für Islamischen Religionsunterricht. Entwickelt wurde er interreligiös, orientiert am Lehrplan 21. Er gilt schweizweit als Pionierarbeit.
Bürglen/Kreuzlingen Ein heller Klassenraum im Schulhaus Seetal in Kreuzlingen. 12 Viertklässler sitzen gespannt auf ihren Stühlen, es ist ihre erste Stunde im neuen Fach Islamischer Religionsunterricht (IRU). Freudige Stimmung, ein bisschen Aufregung liegt in der Luft.
Schon in den ersten Minuten sprüht die Klasse vor Energie. Immer wieder rufen die Kinder «Maschallah!», ein arabisches Wort, das so viel bedeutet wie «So hat es Gott gewollt». Sie fügen es scherzhaft an fast jeden Satz, bis Rehan Neziri sie ermahnt: «Wisst ihr eigentlich, was es wirklich heisst?» Er nimmt die Gelegenheit, um den Sinn zu erklären – ein Beispiel dafür, wie er ständig Aktuelles aus der Klasse aufgreift. Jedes Kind stellt sich vor: Name, Lehrperson, Herkunft. Einige nennen das Dorf, andere nur das Land, aus dem die Eltern oder Grosseltern usprünglich stammen. Manche der Schülerinnen und Schüler kennen ihre «eigentliche Heimat» von vielen Reisen, andere waren noch nie dort. Unterschiede sind sofort spürbar.
Das Thema der ersten Stunde: Was bedeutet Islam? Frieden, Hingabe, Vertrauen. Die Kinder entdecken die Übersetzungen, sprechen über das Wort «Muslime». Unterschiede in der Klasse sind spürbar: Manche Familien praktizieren den Islam, andere weniger. Neziri kennt viele Eltern und weiss um diese Vielfalt. Dann wird es praktisch: Die Kinder üben die muslimische Begrüssung «As-salamu alaikum» («Friede sei mit dir») und die Antwort «Wa-alaikum as-salam» («Und auch mit dir der Friede»). Zum Schluss wird auch die Verabschiedung eingeübt. Spielerisch lernen sie so erste sprachliche und kulturelle Grundlagen ihres Glaubens.
Fragerunde am Schluss
Am Ende jeder Lektion, erklärt er, gebe es fünf Minuten für Fragen. Und die kamen wie aus der Pistole geschossen: «Ist die Labubu-Puppe der Teufel?», will ein Mädchen wissen. Ein anderes fragt, ob eine Muslima ein Piercing tragen darf. Es sei nicht verboten aber auch nicht erwünscht, erklärt der Lehrer sachlich. Ein Junge möchte wissen, ob Muslime ein Kreuz tragen dürfen – er verweist auf zwei Zwillinge in der Klasse. Sofort ermahnt Neziri, nicht über andere zu sprechen. Die Mädchen klären selbstbewusst: «Das war kein Kreuz, sondern Lilien – das Zeichen unseres Heimatdorfes.» Es sei jedem Menschen frei, welches Zeichen einer Religion er trägt, doch es wäre unüblich, kommt Neziri auf die Frage des Schülers zurück. Am Schluss sind die Kinder begeistert. Sie strahlen, fühlen sich stolz auf ihre Religion – und freuen sich, dass sie in der Schule so viel darüber lernen dürfen.
Schweizweit einmaliges Projekt
Seit diesem Schuljahr wird an drei Schulen im Thurgau nach dem neuen IRU-Lehrplan unterrichtet: in Kreuzlingen, Romanshorn und Bürglen. Er ist der erste seiner Art in der Schweiz. Entwickelt von einer interreligiösen Fachgruppe, orientiert am Lehrplan 21, zugeschnitten auf die Deutschschweiz. Ziel: Transparenz schaffen, Vertrauen fördern – und muslimischen Kindern einen kompetenzorientierten Unterricht ermöglichen. «Muslimische Kinder lernen hier, dass Glaube und Schweizer Verfassung keine Gegensätze sind», sagt Neziri.
Von Kreuzlingen nach Bürglen
Der Weg dahin war lang. Kreuzlingen startete im Jahr 2010 als Pioniergemeinde, heute gilt das Projekt als Leuchtturm. Sulgen, Romanshorn, Bürglen und sogar Neuhausen im Kanton Schaffhausen orientierten sich daran. Denn der Bedarf ist offensichtlich: An allen Standorten haben mindestens 15 Prozent der Kinder einen muslimischen Hintergrund.
Der Lehrplan legt Wert auf Kompetenzen statt blosses Faktenwissen. Die Kinder sollen ihren Glauben reflektieren, andere Religionen kennenlernen und ihre Lebenswelt mitdenken – von der Schöpfung über Umweltfragen bis zum friedlichen Zusammenleben. So kann eine Diskussion über den Koran ganz schnell bei Recycling und Klimaschutz landen.
Breite Zustimmung
Von Zürich bis Luzern, von Wissenschaft bis Politik: Die Konsultation des Lehrplans brachte fast nur positive Rückmeldungen. Fachleute sprechen von einem «Best-Practice-Beispiel» und einer «wegweisenden Grundlage». Ob andere Kantone nachziehen, ist noch offen. Klar ist: Der Thurgauer Lehrplan hat Modellcharakter. «Er macht Religion im öffentlichen Raum sichtbar und stärkt die Demokratie», meint die Vorarlberger Pädagogin Helga Kohler-Spiegel.
Für die Kinder im Kreuzlinger Schulhaus Seetal zählt das alles vorerst wenig. Für sie bedeutet IRU vor allem: spannende Geschichten, neue Erkenntnisse – und die Freude, endlich Fragen stellen zu dürfen, die sonst nirgends Platz haben.
Von Desirée Müller